Sonntag, 9. Juli 2017

Der faule Falke




Ein großer König erhielt ein Geschenk von zwei frisch geschlüpften, wilden Falken. Er brachte die beiden Jungvögel sogleich dem Meister der Falknerei, um sie zur Jagd abzurichten. Nach einigen Monaten ließ der Meister dem König ausrichten, dass einer der beiden Falken perfekt ausgebildet sei. „Und der zweite?“, fragte der König.


„Es tut mir leid, Herr, aber der zweite Falke verhält sich seltsam. Vielleicht hat er eine seltene Krankheit, die wir nicht heilen können. Er verlässt den Ast nicht! Niemand kann ihn vom Ast des Baumes weglocken, auf den er am ersten Tag hingesetzt wurde. Ein Diener muss jeden Tag zu ihm hochklettern, um ihm sein Futter zu bringen.“

Der König rief Tierärzte und Heiler und Experten jeder Art zu sich, doch keiner schaffte es, den Falken zum Fliegen zu bewegen. Er befragte den gesamten Hofstaat, Generäle, die weisesten Räte, doch niemand konnte helfen und den Falken von seinem Ast locken. Vom Fenster seiner Räume aus beobachtete der Monarch Tag und Nacht den faulen Falken.


Eines Tages ließ er ein Edikt (Bekanntmachung) verkünden, in dem er seine Untertanen um Hilfe für sein Problem bat. Am nächsten Tag öffnete der König sein Fenster und sah er mit großem Erstaunen, dass der Falke stolz unter den Bäumen des Gartens umher flog. „Bringt mir den Grund dieses Wunders!“, befahl er.

Bald darauf brachte man ihm einen jungen Bauern. „Du hast dem Falken das Fliegen gelernt? Wie hast du das geschafft? Bist du ein Zauberer?“, fragte ihn der König.

Schüchtern und glücklich erklärte der junge Mann: „Es war nicht schwer, Majestät. Ich habe einfach den Ast abgesägt. Der Falke erinnerte sich an seine Flügel und begann zu fliegen.“
(Bruno Ferrero)





Manchmal wird uns vom Schicksal/ von Gott der sichere Zweig abgesägt, auf dem wir sitzen, damit wir uns an unsere eigenen Fähigkeiten erinnern. Manchmal muss man auch einem anderen Menschen ganz bewusst die Hilfe verweigern, damit dieser anfängt, Verantwortung für sich selber zu übernehmen. Dann allerdings ist das vermeintliche "Unglück" für die Person ein "Sprungbrett" zu einem besseren Leben.
Wie oft klammert man sich an seinem "vertrauten" Zweig fest, aus Angst und Sorge vor dem Unbekannten?